Beim jüngsten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, in Deutschland trat der tiefe Dissens offen zu Tage: Während der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, Solidarität mit dem von der Hamas angegriffenen Israel erklärte, ergriff Erdoğan einmal mehr Partei für die islamistische Terrorgruppe, die er zuvor bereits als «Freiheitskämpfer» bezeichnet hatte. Er nannte Israel einen «Terrorstaat» und stellte das Existenzrecht Israels in Frage, die westlichen Staaten verurteilte er als «Kreuzfahrer».
Das alles kann Erdoğan sich erlauben, weil er weiß, dass der Westen weiterhin in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Migrationspolitik, auf die Türkei angewiesen zu sein glaubt. Die Bundesregierung hält ihre Türkei-Politik offensichtlich weiterhin für «alternativlos». […]
Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre ist davon auszugehen, dass die Regierungsallianz in Ankara weiter auf eine türkisch-nationalistische Mobilisierung setzen und dabei regelmäßig auf antikurdische und antisemitische Äußerungen zurückgreifen wird. Dass die Türkei zugleich unter sozialen und ökonomischen Krisen leidet, hat bislang auch deshalb nicht zu einem Hegemonieverlust der autokratischen Regierung geführt, weil die Mainstream-Opposition, wie gesehen, keine eigenständige und glaubwürdige Alternative zur Regierungspolitik entwickelt hat. Die linke Opposition, die sich nach den Stimmenverlusten bei den letzten Wahlen neu orientieren muss und gerade eine organisatorische Umgestaltung von der HDP zur neu gegründeten «Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker» (HEDEP) durchmacht, bleibt außerhalb der kurdischen Region marginalisiert und verfügt über keine Bündnisoptionen für ihre progressive und nicht-nationalistische Politik. Im Ergebnis sitzt die türkische Regierungsallianz innenpolitisch wieder fest im Sattel.
Offen bleibt indes, wie die westlichen Staaten auf die verstärkt antiisraelische Rhetorik Ankaras reagieren werden. Erdoğans auch beim Staatsbesuch in Berlin demonstrativ zur Schau gestellte Positionen zu Nahost dürften, anders als die türkischen Angriffe auf Rojava, vom Westen kaum ignoriert und geduldet werden. Ein offener Konflikt zwischen türkischer und israelischer Regierung könnte zu außenpolitischen Reaktionen der westlichen Staaten führen – allerdings nur dann, wenn sich letztere von ihrer allseits gepflegten Überzeugung verabschieden, dass sie sicherheits- und migrationspolitisch weiterhin auf die Türkei angewiesen sind.
Türkei: Aggressiv nach außen und innen (Rosa Luxemburg Stiftung, 22. November 2023)