Was du zum Kampf um die Demokratie in der Türkei wissen musst

Erst wird der wichtigste Oppositionspolitiker festgenommen, nun Massenproteste. Wie das System Erdoğan funktioniert und warum es bröckelt. […]

„Küpeli ist in diesen Tagen ein gefragter Gesprächspartner, wenn es darum geht, die aktuelle Situation zu erklären. Der Politikwissenschaftler hat zur kurdischen Frage in der Türkei promoviert und ist zudem Experte für Nationalismus und Rechtsextremismus. Ideologien, die für Erdoğans Herrschaft heute eine große Rolle spielen. Küpeli unterscheidet dabei allerdings zwischen 2 Phasen. »Bis 2015 war es so, dass es einem Großteil der türkischen Wähler:innen unter der AKP-Regierung einfach besser ging.« In den kurdischen Gebieten herrschte relativer Frieden, im Rest der Türkei relativer Wohlstand. Die AKP war so beliebt, dass sie sich auch in freien Wahlen locker durchsetzte. Parallel baute sie allerdings auch schon ihre Kontrolle über die Institutionen bis in die 2010er-Jahre enorm aus. »Die AKP hat den Staat weitgehend übernommen. Danach war der politische Wettbewerb generell unfair«, sagt Küpeli. Vergleiche zu US-amerikanischen Plänen von heute drängen sich auf – auch wenn die Länder sehr unterschiedlich sind. […]
Der Politikwissenschaftler glaubt, dass Erdoğan neben der Einigkeit seiner Gegner:innen auch die Mobilisierungskraft der jungen Generation überrascht habe. In Regierungskreisen habe wohl die Hoffnung vorgeherrscht, dass die 20-Jährigen, die nur die AKP an der Spitze des Staates kennten, die Verhaftung İmamoğlus einfach hinnehmen würden – dass der Status quo und Gewohnheit die Herrschaft zementieren würden. »Das hatten Erdoğan und die AKP unterschätzt – und ich ehrlich gesagt auch«, sagt Küpeli. Es scheint, als sei nun der Moment gekommen, wo sich die jahrelange Unzufriedenheit über die Unterdrückung auf der Straße entlädt. […]
Für Küpeli gibt es 2 mögliche Szenarien, wie es in der Türkei weitergeht:
Die Regierung sieht ein, dass sie sich verschätzt und den Bogen überspannt hat. Ekrem İmamoğlu wird wieder freigelassen. Es gibt Wahlen, an denen er teilnehmen kann.
Die Regierung versucht wie 2013 den Widerstand gewaltsam zu zerschlagen. Dann würden freie Wahlen für die Türkei in weite Ferne rücken, die junge Generation ihre Hoffnung auf einen friedlichen Machtwechsel verlieren. Die Folgen: Zunehmende Emigration, politische Gewalt und möglicherweise eine weitere internationale Isolation der Türkei. Ob Erdoğan dies riskieren will, ist fraglich.
Die Erfahrung und die repressive Reaktion der türkischen Regierung auf die Proteste sprechen eher für Variante 2. Doch etwas bereite ihm Hoffnung, sagt Küpeli. »Die Menschen gehen immer wieder auf die Straße, obwohl sie wissen, dass die Polizei sie angreifen wird und sie in Haft vielleicht Folter erleben werden. Das Engagement, gerade der jungen Menschen, ist nach wie vor sehr stark.« Die Demokratie in der Türkei werde sicherlich nicht daran scheitern, dass sich zu wenige für sie einsetzten.

Was du zum Kampf um die Demokratie in der Türkei wissen musst (Perspective Daily, 11. April 2025)

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